DEUTSCH

DIE LETZTE SAISON IM GARTEN EDEN                
  (Eine Vision)
                                    
ROTE VERSUCHUNG

           Draußen loderte eine rote Flamme, schlug empor, leckte is Glas, und David sah im Fenster, wie er flog. Der Seraph[1] flog über das Dorf, entfachte dabei langsam große, formlose Brände, und Koljucha stand schon in der Ferne, hoch auf dem Dachfirst des Pferdestalls, um ihn – wie jemand, der eine lästige Fliege verscheucht oder beim Taubenschlag mit dem Stock gen Himmel droht – von seinem Grund und Bo­den zu vertreiben: den feuergefährlichen Gast jener Welt. Das Pferd in der Koppel wieherte. Koljucha stand sein eigener Hengst durchaus zu, als Förster hätte er sich zwei Hengste halten können. Und ein Pferd hatte ihn auch nicht gerade arm gemacht, das bewies sein geräumiger Wohnsitz unter blaugestrichenem Blechdach, der Luxus-Kühlschrank «Birjusa» in der Diele, einem richtigen Vorzimmer, groß wie eine Hotelhalle, und der Farbfernseher im zweiten Zim­mer, genau unter der Ikone in der Ecke, wo er am besten zur Geltung kam. Den Fernseher hatte ihm sein älterer Sohn im eigenen Wagen aus Bolschewo mitgebracht. Das schwere Ishewsker Motorrad mit dem schwarzlackierten Beiwagen stand am Tor unter seiner Plane in Bereitschaft, mit drei an den Lenker gebundenen Helmen, für alle Fälle, voll aufge­tankt und mit geprüften Bremsen; man brauchte sich nur daraufschwingen und loszurasen. Und sein Vieh: die zwei Kühe, deren pralle Euter auf der Erde schleiften, die sechs Schafe samt Hammel, und Koljuchas Stolz: der Galaganer Hahn in steter Begleitung seiner imposanten Damenschar: gackernde, den ganzen Tag im Dreck scharrende gefiederte Eierwärmer… Nur ein Funke – Gott bewahre uns davor! – und alles ginge zum Teufel.
       Deshalb also steht der dürre, langbeinige Goi auf dem Dachfirst und schwingt eine Wagendeichsel durch die Luft. Ist das etwa neu? Hätte David, neben seiner Misch­poche, allein ein Viertel von Koljuchas Besitz is Halse, würde er vermutlich auch nicht nur einfach is Fenster gestanden haben, mit Glotzaugen und wie angewurzelt. Er wäre gleichfalls unverzüglich in den Hof gestürzt zu einer Leiter oder auf den Baum mit den weitausladenden Ästen – aber so? Stress, Hektik, Kopfzerbrechen und die Kinder aus dem Schlaf reißen? Selbst wenn der Messias käme, würde David sich nicht rühren: Brennt es halt ab… Ah, was für ein Genuss, die kahle Stirn an das Fensterglas zu pressen und zu gucken, einfach nur zu gucken…
       Der Seraph, ein gutes Stück größer als ein Steppenstorch und etwas kleiner als ein einsitziges Sportflugzeug, dieser seltene Raubvogel aus fernen Himmeln, streute lautlos blaue Funken und zog im Fluge ausgedehnte Feuerkreise über dem Dorf. Sinowij Pantelejmonowitsch, der Sommer­gast aus Smolensk, war schon auf die Schwelle hinausge­eilt und stand totenstarr, den Kopf zum Himmel gewandt – dabei verdeckte er mit beiden Handflächen den offenen Bund seiner Unterhose.
       Er ging stets früh, fast noch is Tage schlafen, wenn die Sonne rot und heiß durch die Tannen der Bergschlucht im Westen lugte. Zwischen feuchten Laken, die stickige Bettdecke zum Schütze gegen Mücken über den Kopf gezogen, wartete Sinowij Pantelejmonowitsch dann für gewöhnlich, bis Tamara Nikititschna, sein Weib, ihre zahllosen täglichen Verpflichtungen beendet hatte: die Hühner und Enten in den Verschlag getrieben waren, und sie den Hund für die Nacht losgebunden und die Schaufel von innen gegen die Gartenpforte gelehnt hatte, damit sich keine Katzen oder Hasen is Gemüse zu schaf­fen machten, das gerade dieses Jahr – wer weiß warum? – vielleicht durch die Südwinde aus Tschernobyl – noch vor dem Sommer unglaublich in die Höhe geschossen war. Wie Baumstämme sahen sie aus, die saftigen Stengel von Zwiebeln, Dill und Knoblauch, und auf den Rüben spross solch dichtes Kraut, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte!
       Die Kartoffeln waren auf einem extra Feld gepflanzt, das weit bis zum Fluss hinunterreichte, bis zur Schlamm­senke, wo früher, so erzählt man sich, das Vieh des Dorfes geweidet wurde, Herden, von denen heute nicht mehr geblieben ist, als zwei dürre Kolchoskühe und ein paar knochige, ständig melancholische Ziegen, die wohl sehn­süchtig an die Chrustschow-Ära zurückdachten, als sie – oh, närrische Kinderzeit! – noch durch exotisches Korn­ährendickicht schlendern durften….
       Tamara Nikititschna wirkte in Davids Fenster wie ein absurdes Monument: Sie hatte sich eben niedergebeugt, um den Hund loszuketten – und war in dieser Stellung erstarrt. Von fern erinnerte sie nun zusammen mit dem Hund an ein mythologisches Zwitterwesen, eine Art ab­gewandelter Zentaur, der aus einer Frauenbüste und dem Hinterteil eines Hundes bestand. Etwas höher, über ihr, auf der Schwelle, leuchtete, die Hände is Hosenbund, wie schon erwähnt, Sinowij. Sein gleichsam in Messing getriebenes Profil, sein angespanntes Gesicht, glich aufs Haar jenem legendären Grenzsoldaten Karazupa, dessen ruhmreiche Figur mit dem wachsamen Schäferhund, einst auf allen Wänden, vor Davids Augen gestanden hatte – oh, närrische Kinderzeit.
       Rosa Nebelschwaden zogen sich zum fernen Hügel is anderen Ende des Dorfes, wogten über dem gewundenen schmalen Flüsschen in vagen farbigen Schlieren, bald höher und dünner, bald tiefer und dichter; menschliche Leiber – in Umrissen oder wie Sandsäcke ausgefüllt — zeigten sich hier und da neben den Häusern; ein brüllender Ochse schwamm im scharlachroten Qualm auf verqueren Bei­nen, und aus seinem offenen Schlund drang wieder und wieder ein dumpfes Brüllen – mystisch wie der Schofar des Erzengels Gabriel.
       Ganz in der Nähe, is Fuß des Hügels, auf dem Davids Haus stand, blitzte es plötzlich auf in einem Strauch. Er flackerte und wahrscheinlich, dachte David, ließ sich jetzt dort eine Stimme vernehmen: «Zieh deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort auf dem du stehst, ist heiliges Land».
 
             Gelobt sei Gott, sagte sich David, dass es die Meinen nicht sehen: Der Kleine, er schläft, die Händchen um die Mutter gelegt, und Sjuschka, wirklich schon ein großes Mädchen (ein, zwei Jahre noch, und sie braucht einen Büstenhalter), Sjuschka wollte offenbar noch nicht zu Bett. Sie sitzt hinterm Ofen auf ihrem Schemel, klimpert auf ihrem kleinen Akkordeon die «Tatschanka» und singt dazu; allerdings vollkommen falsch und mit verballhorn­ten Worten. Aus «Rostowtschanka», was «aus Rostow» heißt, macht sie, hört euch das an! – «Rastatschanka». «Ach was, Tatschanka – Rastatschanka». «Rastatschanka» – was für ein Blödsinn…
 
                                                                                       BERGE VON FLEISCH

       – Komm, – sagt Larissa, – Väterchen Paschka verkauft Fleisch!
       – Ja, und? Weißt du nicht, wo das Geld liegt? – gibt ihr David zerstreut zur Antwort, steht dann aber auf, streift sich das Hemd über, zieht die abgewetzten Jeans an und schnürt die schweren, von irgendwem dort zurückgelas­senen Schuhe zu. Zu Väterchen Paschka ist es ein gutes Stück Weg durch Feld und Morast. Im Übrigen, dachte er, während er mit seinem Weib an den blaublumigen Flachsfeldern fern des Dorfes entlangschritt, trifft sich das gut. Bei Djed Paschka werden die Menschen nur so zusam­menlaufen: Fleisch ist schließlich keine Kleinigkeit! Die Ortsansässigen, die hiesigen Gojim, wissen doch sicher, müssen es doch wissen, was das gestern war, dieser Seraph oder zumindest das Feuer – und wie oft derlei atmosphäri­sche Erscheinungen hier vorkommen. Er jedenfalls hat noch nirgendwo von solch einem Widerschein oder Nordlicht in Zentralrussland, nur vierhundert Kilometer von Moskau, gelesen…
       
Hierher, nach Wejeno, hatte es ihn gewissermaßen per Zufall verschlagen. Wenn man es jedoch genauer betrach­tet… Am Metroausgang stach ihm schon von fern das wilde Buchstabengewirr eines Wandzettels ins Auge – ein Aufruf an das russische Volk, die Juden totzuschlagen. Frank und frei. Klipp und klar. Mit exakt bezeichnetem Datum: dem fünften Mai. Da war bereits der zweite.
       Nachdem David sich das faschistoide Blättchen noch­mals in aller Ruhe durchgelesen hatte, kehrte er fast zu­frieden wieder um, ging hinunter zur Metro, stieg is Bjelorussischen Bahnhof aus, löste an der Kasse einen Fahrschein für sechs Rubel (mehr hatte er nicht im Porte­monnaie), bettete sich zehn Minuten später auf die freie untere Liege im Waggon, schlummerte einige Stunden, stieg eine Station vor Smolensk (bis dahin reichte sein Fahrschein) wieder aus, ließ sich von einem an der Bahn­schranke wartenden LKW, einem Milchtanker, bis nach Kamenka mitnehmen, wie ihm der Fahrer geraten hatte, begab sich zum Gemeinderat und wartete dort auf den Vorsitzenden…
       Spät nachts, gegen drei, kehrte er müde, staubig und mit Straßenmatsch bespritzt, nach Moskau zurück, und befahl den Seinen zu Hause, nur das Allernötigste einzu­packen. Die darauffolgende Nacht verbrachten sie bereits in Wejeno auf der eigenen Datsche, einem echten Bauernhaus in einem richtigen Dorf am Ende der Welt, fern­ab von der prachtvollen Hauptstadt mit ihrer berühmten «Perestroika»…
       Auf dem Hof von Väterchen Paschka, dem Hirten der Kooperative, drängte sich lärmend das ganze Dorf – Körbe und Eimer in den Händen, Säcke auf den Schultern…
        Als sie das eintreffende Paar gewahrten, verstummten alle und machten den Neuankömmlingen wortlos eine Gasse zur Schwelle frei, wo rechts und links neben der Eingangstür – noch dampfend vor frischem Leben – auf Sperrholz und Blechen zu ebener Erde rohe Fleischklumpen lagen, fett und mager, schief und krumm geschnitten, wie es gerade kam; rötliche, nicht gänzlich zerhauene Knochen, ein behaartes, blutverschmiertes Ohr oder ein Huf mitten darunter, ein Auge, das aus einem Haufen Gedärm glotzte…
       David fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er ließ den Blick zu den fernen Wäldern schweifen, wandte sich um, und ging mit großen gemessenen Schritten vom Hof.
        Wie im Traum gelangte er bis zum Feld, warf die Jacke in die roten und blauen Blüten, zog mit steifen Händen die durchweichten Schuhe aus und setzte sich mit wund­gescheuerter nackter Ferse neben eine Kamille, um auf sein Weib mit dem schönen Einkauf zu warten. Die Fleischberge standen ihm noch immer vor Augen. Wie heißt es doch in der heiligen Thora? Lo tirzach! Du sollst nicht töten, nicht morden, nicht umbringen… Den eige­nen Sohn brachte Abraham zur Opferung auf den Berg Moria. Hatte ihn Gott nur auf die Probe stellen, ihn ver­spotten wollen? Wozu? Der Höchste weiß alles, liest im voraus in den Seelen, wen brauchte er noch ausforschen?
       Es wäre absurd. Also hat er – der Herr, geheiligt seie sein Name – mit der grausamen Szene gewiss erklären wollen, dass man keinen Menschen opfern darf, noch dazu den eigenen Sohn! Ja, was dann? Ein Lamm? Dann hätte der Herr der Welten dem alten Abraham gleich ein Schäfchen untergeschoben, als er dem Greis das Messer festhielt… Nein, nicht Gott hatte Abraham, sondern umgekehrt, er, der kürzlich noch ein Götzendiener war, der Neubekehrte, hatte den Schöpfer geprüft und in Versuchung geführt: Wenn er wirklich gerecht und barmherzig ist, wie könnte er zulassen, dass ein Vater den eigenen Sohn ersticht?
       Ach, nur einen Augenblick, einen winzigen Moment –und keine Spur vom Volke Israel würde sich mehr in der Weltgeschichte finden, keine Spur von Zehn Geboten oder Moral, keine Spur der heutigen Zivilisation…
       Doch wer weiß, in welcher Welt wir heute lebten, wenn die Urenkel, der Stamm Abrahams, die großen Vergesser, als ihre Stunde gekommen war, nicht den Sohn des Schöp­fers, des himmlischen Vaters, auf einem anderen Berg um­gebracht hätten, angenagelt an zwei sich kreuzende Bal­ken – möglicherweise aus Birkenholz? Ach, der naive Gott meinte wohl, er habe es mit Ehrenmännern zu tun… Jener freilich hatte noch ein Mittel in Reserve: Wiederauferste­hung. Doch an das Los einer lebenden Seele wird er wohl ewig zurückdenken… Berge von Fleisch… ausgequetschte Augen auf der Erde… zerhackte, gebrochene Füße… aus­gerissene Därme und Herzen… Der Antichrist-Christ mit der offenen Anti-Thora in der Hand, und seinem ersten Gebot: Schlag tot!
       Ein verirrte Wasserjungfer, sicher vom Flüsschen her­übergeweht; eine Ameise, welche unbedingt auf einen Strohhalm klettern will; blauer Flachs und rote, wilde, voll erblühte Mohnblumen; die gelbe, fast flüssige Sonne-geschmolzenes Gold.
       Larissa kommt nicht, sie hat keine Eile.
       Was aber hatte dieser nächtliche Seraph zu bedeuten? Wen wollte er auf seine Fährte hetzen, auf Davids Haus, auf das Dorf? Eine Feuerlohe is finsteren Himmel über einem Land mit ausgeschalteten Sternen. Hatte er etwa ihn, David, geheißen, er solle ihm nachfliegen? War er vielleicht ein Gruß, ein Leuchtsignal aus den Himmeln, von einem fremden Planeten? Sechs Flügel hatte er, wie Jesaja erzählt, «mit zweien bedeckte er sein Antlitz, mit zweien bedeckte er seine Füße, und mit zweien schwebte er.» Die Ortsansässigen tun, als wäre nichts geschehen. Kaufen einen Korb Fleisch, melken ihre Kühe, versorgen sich mit Holz für den Winter – da ist sie schon wieder zu hören, die kreischende «Drushba», die Motorsäge…
       Als er die Jacke von der Erde aufhob, vernahm er fröh­liche Stimmen aus der Ferne, ein vertrautes rohes Geläch­ter: etliche, schwer bepackte Frauen, unter ihnen seine Larissa. Sie zog eine große Tasche auf Rädern bergauf, den staubigen Weg entlang. Ach, wie leicht, mit welch schwebender Grazie, sie dahinschreitet und dabei ihre Hüften schwenkt, sie fühlt sich gewiss wohl und heimisch unter den Dorfweibern – unter den Ihren – wie immer, wenn sie mit einfachen Menschen alleine bleibt, wo er, David, der Fremde, der Nichtrusse, sie nicht mit seinem verdächtigen Schweigen und seinen großen Augen stört…

       Achtzehn Jahre Betrug und Verrat.

       Sein verratenes Leben.

       Nicht mehr lange.

       Ein Heuschober aus dem Vorjahr stand nahe bei ihm auf dem Feld. Mit gesenktem Kopf und bemüht, nicht an Schlangen zu denken, kroch David in die muffige, sta­chelnde Zuflucht, tief ins Innere, ließ keinen Lichtstrahl ein, keinen Spalt mehr zur Außenwelt offen, kauerte sich in der warmen, modrigen Finsternis zusammen, legte sich auf die linke Seite, umfing seine Knie mit beiden Armen, schloss fest die Augen und lauschte, wie in seinem Herzen gleich Rostwasser in einem Eimer ein einziger Wunsch plätscherte: Sterben. «Wie ein Hund», dachte er noch, «wie ein Hund»[2] – und hörte die schweren Weiberschritte auf dem Fußweg und vulgäres Lachen, eine schrille Stim­me. Eine der Begleiterinnen wollte von Larissa wissen, wieviel man denn «bei ihnen» abschneide – ein Viertel? Die Hälfte? Ihre leise Antwort verstand er nicht ganz: «mir reicht es noch» oder etwas in der Art, und ein grausames Johlen, schallendes Gelächter, wälzte sich wie Donner­grollen an ihm vorbei.
       Freilich konnte David auf Grund der Lebensumstände keine Tfiles, keine Gebete, kennen, doch sein verwirrtes, verzweifeltes und schamvolles Murmeln erinnerte jetzt gar an einen Psalm, einen zum Himmel schreienden Vers: «Adonàme elohàme b’chó chassiti hoschi’e’jni mikól-rodfàme wehazilѐjni»[3].
 
 
                                                                                   DER RUSSISCHE BÄR

       Koljucha wollte wissen: Was hatten sie alle – David mit seiner Mischpoche – is Sumpf zu suchen?
David saß mit ihm im Hof hinterm Heuschober unter dem Schuppendach, und Koljucha glotzte wie eine Eule aus zwei geröteten Augen und hörte nicht auf ihn zu löchern: Welcher Teufel hatte sie nur an diesen Sumpf verschlagen?
Die Flasche albanischer Kognak, Davids Beitrag zur un­erwarteten Festlichkeit, lag leer im Gras, die zweite der beiden Flaschen Selbstgebrannter, die der Goj aus seiner schier bodenlosen Innentasche zum Vorschein gebracht hatte, war auch schon halbleer, und Koljucha, der eine Kerbe im Hackklotz mit der Ambrosia gefüllt hatte wie eine heilige Lampe mit Öl, riss nervös ein Streichholz nach dem anderen an: schließlich wollte er beweisen, was für Qualität das war — es brennt!
       Das Teufelszeug aber wollte nicht brennen, und David, möge ihm Götze Bacchus verzeihen, schöpfte Verdacht, dass sein «bester Freund» ihn den ganzen Sommer über gar nicht mit echtem Branntwein, sondern mit schnödem Drugatsch beliefert hatte, dem stinkenden, schwachen Sud, welcher im Destillierapparat verbleibt, nachdem das erste, atemverschlagende Gebräu, der zum Verkauf be­stimmte Perwatsch, abgefiltert worden ist. Er, David, war gewiss kein großer Sachverständiger in der Kunst der Getränkebereitung, doch hatte er immerhin neunund-vierzig Jahre in Russland gelebt seit dem lichten Feiertag, als ihn die Sowjets befreiten und den Winzling mit vie­len anderen dem Zugriff des Herzogs Karl von Hohenzollern entrissen. In all den düsteren und sonnigen Jahren und Tagen hatte er freilich schon das ein oder andere begriffen dank der pfiffigen Weisheit des Volkes, mit wel­chem er auch jetzt Mahl hielt an einem moosbedeckten Klotz, Amen!
       Welch böser Geist, wollte sein Saufkumpan erneut wis­sen, hatte sie bloß an den Sumpf verschlagen? Und wäh­rend er es zum wer weiß wievielten Male fragte, warf er David einen Blick zu – aus einem Paar klarer und ernster Augen, und David fühlte sich mit einem Schlag unwohl.
       Koljucha war also gar nicht betrunken, nicht im minde­sten, und hinter all seinem sinnlosen Gerede, all seinem hohlen Geschwätz steckten demzufolge Kalkül und ein schrecklicher Sinn.
       Wieso man ausgerechnet den Förster, den brummigen Waldwächter zu ihm schickte, lag auf der Hand: Geh, hatte man ihm wohl gesagt, pack dich und geh zu deinem Juden, du selbst hast ihn ins Dorf geholt, geh und kläre das Wie und Warum. Ein Bauer bleibt halt ein Bauer, erst recht in einem Nest wie Wejeno mit elf oder zwölf kleinen Höfen, die gerade noch übriggeblieben waren vom einstigen Anwesen des Gutsbesitzers Lissnitzky: sieb­zig Bauerngehöfte, dazu eine Mühle is Staudamm und eine Vierklassenschule auf der ausgedehnten Wiese, wo noch heute riesige weiße Birken rauschen, fast scheint es, als würden sie noch widerhallen vom Gesang und dem Lärmen der Kinder.
       Die Zivilisation rückt zweifellos vor auf diese süße Idyl­le, auf die Felder und Wälder, und der Mensch zieht sich zurück in seine fleischliche Hülle, in die uralte Wildheit seiner Psyche, in Aberglauben und Obskurantismus. Der nächtliche Besuch des Seraphen hat sie alle erregt, ja auf­geschreckt. Im afrikanischen Dschungel hätte man ihn, David, den sonderbaren Neuankömmling, wohl schlicht-weg umgebracht und anschließend verspeist; in einem chassidischen Städtchen wäre er ohne viele Worte aus der Gemeinde des Wunderrabbis verstoßen worden – in die äußere Finsternis.
Im dunkelgrünen Tuch, tief im Herzen der russischen Wälder aber, außen bestrahlt, beleuchtet vom Schein der Fernseher und bolschewistischem Schrecken, da schickt man ihm, dem fremden Kauz, einen Freund als Spitzel und gibt ihm warnend zu verstehen: Schau, Jude, bei uns kommt ihr mit euren Winkelzügen nicht weit!
     
​        – Nun? – fragte David, und streckte Augen und Stirn dem blassen, teigigen Gesicht entgegen, – nun?
        – Blindes huhn! Was hatten sie immer dort zu schnüffeln, er mit seinen zwei Bälgern und noch dazu mit der Tochter der Kardimower Hexe, hier in Wejeno weiß das jeder. In Kardimowo sind sie schon dahinter gekom­men, so mag es auch er, David, der Dummerjan, jetzt er­fahren: Seine Schwiegermutter ist eine Hexe. Welcher Teufel hatte sie alle zum Sumpf geführt, was hatten sie dort zu suchen?
       Koljucha wurde immer aggressiver. Er stieß seine Worte böse hervor und betonte sie mit scharfen Schlägen seines Stocks auf die Erde. Da er naturgemäß mit einem Gewehr durch die Wälder zog, führte er, ein kräftiger Mann Ende Vierzig, auch im Dorf stets einen grobgeschnitzten, nicht gerade eleganten Eichenknüppel mit sich – als Spazierstock.
       – Hech!
       Eine gewaltige Grille sprang unter dem Stock hervor, und David fühlte plötzlich, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief. Still sah er sich um.
       Die Sonne brannte vom blauen Himmel herab, als wäre nichts geschehen, ihr Schein ergoss sich über die Welt wie flammendes Öl, Tropfen von Saft oder Licht perlten zähflüssig zur Erde… Der Wald, hoch, dicht, uralt und im Inneren dämmerlichtig, fast schwarz, schwankte kaum sichtbar als großer Schatten über den Weg, hinüber auf die andere Seite des Lehmpfades, der sich hier, neben Davids Haus, hinter seinem auf grünem Hügel gelegenen Hof, dem letzten im Dorf, genau hier also wie eine zer­tretene Schlange in der staubigen Wagenspur krümmte, am Waldrand verröchelte, und nicht sterben wollte.
 
       Ja, was wohl? – dachte nun auch David. War es nicht wirklich so, dass ihn seine Holde zum stinkenden Sumpf gezerrt hatte? Himbeeren wollte sie! Himbeeren! Durch­weichte, im Moderdunst angefaulte Himbeeren, wässrige Früchte, die man – von bester Sorte! – den Eimer für drei Rubel verkaufte. Die Kinder sollten der Natur näher sein, ihrem Heimatland… Warum bist du, Idiotin, dann selbst zur Ausreisestelle gelaufen? Doch vielleicht hat das eine nichts mit dem anderen zu tun? Ich bin gewiss auch ein Idiot… Und is gleichen Tag, nach dem Beerensammeln, spät in der Nacht, der flammende Seraph, diese Erschei­nung…
       Koljucha hatte sich etwas beruhigt, war stiller gewor­den. Er schob ihre beiden Gläser mit scharfem Klirren in­einander und verschüttete den Rest der Flasche, indem er sie mehrmals hin und her schwenkte, so dass sich aus dem schmalen, glänzenden Arzneigefäßhals ein dünner Strahl ergoss; der Selbstgebrannte floss dadurch länger, langsamer und vermittelte eine Illusion von Fülle und Unerschöpflichkeit. Jener ungewöhnliche Schein in der Luft, den man mehr fühlte als sah, stand als wunder­sames geneigtes Strahlenbauwerk in der Atmosphäre. Sie hatten das dritte gefährliche Fläschchen geleert und wa­ren noch immer stocknüchtern. Koljucha saß stumm und kraftlos da, versunken in seine eigenen Gedanken, tief und finster wie seine Jackentaschen. Der Ärmste hatte, neb­bich, den Auftrag der Gemeinde nicht ausgeführt, wie sollte er es den Leuten erklären?
       Wie mitleiderregend sieht er aus, dachte David, wahrlich ein feiner Kerl, jetzt würden sie ihn fressen. Er, Koljucha, hatte ihn, David, ja damals mit seinem Motorrad aus Kamenka ins Dorf gebracht… Falls sie nicht wissen, was für ein Seraph das war und wo er herstammt, werden sie keinen anderen Grund, keine andere Erklärung akzeptie­ren als finstere jüdische Arglist. Trotz aller Zivilisation und vielleicht gar dank des allgegenwärtigen Fernsehens…
       – Hör mal, Nikolai, – David stieß ihn an und tippte mit dem Finger auf seine Quarzuhr. Ohne zu beenden, was er sagen wollte, stand er auf und ging im Gras hin und her.
       Der harte, kristallklare Schein der Luft umrandete seinen Körper, seine Silhouette, wie Röntgenstrahlung und füllte ihn mit Finsternis, mit Anti-Licht.
       Koljucha, mein Lieber, wie soll ich dir das nur alles er­klären? Was weißt du schon von jüdischer Engelslehre, Angelologie? Oder hast du Newtons alte Forschungen über das göttliche Weltall gelesen und die von ihm be­rechneten Flugbahnen gesehen, auf denen die Engel zu uns herabschweben? Der Kosmos, weißt du, ist relativ, nicht nur im physischen, auch im geistigen Sinne. Ach, Koljucha… du bist ein glücklicher Mensch, musst keinem irgendetwas erklären, nichts beweisen…
       «Bär… der Bär…», murmelte Nikolai vor sich hin, doch David hörte schon nicht mehr zu und maß dem sinnlosen Gemurmel keine Bedeutung bei…
       Koljucha, Bruderherz, – dachte sich David, – schau dich nur um auf der Welt, wo sonst lebt man in solch prächtigen, gewaltigen Zeiten, wo sonst gibt es solche Jahrhunderte und Landschaften, in denen man – mehr oder minder – bis heute so lebt, ‘bis zu dieser Stunde, in der wir, du und ich, hier beisammen­sitzen, und den feurigen Selbstgebrannten saufen…
       
        Einzelne Worte aus Davids stummem Monolog ließen sich wohl doch vernehmen, denn sein melancholisch ge­wordener Gast lächelte plötzlich und brummte: «Ejzess-Bejzess», «Angeli-Wrangeli».
Oder wusste er, David, dass is nächsten Morgen, in aller Frühe, als seine Larissa noch nicht einmal damit be­gonnen hatte, die gesammelten Himbeeren einzukochen, ein Bär aus dem Sumpf kam und zwei weidende Kühe der Gemeindeherde riss?
                                                                                EXODUS

        Exodus – das heißt immer auch erzwungenes Exil, grau­same Vertreibung.

        Als er seine schöne Larissa, sein Weib, mit viel Mühe dazu, gebracht hatte, sich durch das bösartige Brennessel-gestrüpp zu quälen, das den Zugang zum Badehaus wie eine Mauer versperrte und das Waljuscha gebeten hatte, nicht zu schneiden, weil sie das Grünzeug später für ihre Gänse brauchen würde, Gänse, sagte sie, fressen es gern, in den Trog gehäckselt; als er schon die Vordertür ver­riegelt hatte, das berühmte russische Vorbad, mit den durch die Wandspalten dringenden Sonnenstrahlen und der ewigen Spinnenwebe in den finsteren oberen Ecken, als er sie, Larissa, schon fast gewaltsam hineingestoßen hatte in das dunkle, mit Holzbalken ausgelegte Kämmer­lein mit seinem winzigen verräucherten Fensterchen und einem großen Ofen mit eingelassenem Kessel, um das Wasser zu wärmen, einer breiten Schwitzbank unter der Decke, auf die man sich nach dem Waschen üblicherwei­se hinlegte, schwitzte und mit Reisigbesen schlagen ließ, und weiter unten – eine Sitzbank, abgewetzt von nackten gojischen Rücken und Hinterteilen, auf welche er sich, mein Gott! nun endlich niedergesetzt hatte und gerade mit ungeduldiger Pein in ihren süß-lockenden Weiber­schoß eindrang, eine Zartheit, die er schon fast vergessen hatte wie einen Traum, wegen der endlosen        Streitereien und der aufdringlichen Kinder: «Mama, wir kommen mit euch Himbeeren suchen», «Papa, nehmt uns doch mit in den Schuppen zum Heu wenden», «Mama, gestern hat Sjuschka mit dir geschlafen, heute will ich», –  als ihm, auf der blankgescheuerten Bank sitzend, schon der Kopf krei­ste wie vor Schwäche und ihm der Atem stockte, gerad da hörte er das Brummen.
       Er öffnete nicht einmal die Augen: ein Flugzeug. Das bedrohlich tief fliegende Luftgefährt brummte seitwärts heran, neigte sich, hing über seinem Kopf, berührte ihn fast mit seinen ausgeklappten Rädern, dröhnte David mit brüllendem Echo die Ohren voll und sprengte sein honig­schweres, vor Lust benommenes Hirn in tausend feurige Stücke. Larissa sprang von seinen Knien:
       – Was ist das?
       Schwarzglodene Riesenwespen, ein schauriger Schwärm, eine vielrümpfige geflügelte Meute, aufgeschreckt wohl von der heißen biologischen Welle, die plötzlich scharf und kräftig in die Höhe geschwappt war, hoch zur Decke, wo durch ein Loch in der Furnierverkleidung hell ein ge­waltiges Wespennest leuchtete, das der Schwärm brau­send und wirbelnd umkreiste. Das ist sie, die süße Liebe im finsteren Exil.
       Na-na…
       Nachdem er die Brennesseln abgemäht hatte, schritt David zur Tat. Er fuhr in ein Paar Rauhlederstiefel, zog sich eine Wattehose und den Pelz aus dem Schuppen an, stülpte die abgeknöpfte Kapuze seiner Regenkutte auf, schob eine Schutzbrille vor die Augen und streifte sich Gummihandschuhe bis zu den Ellenbogen über. Schließ­lich bewehrte er sich noch mit einem langen Stock, einer dünnen Stange, die er aus der Umfriedung des Acker­stücks gezogen hatte, das halb mit Kartoffeln der Marke «Sineglaska» bepflanzt war.
       – Ach, mein verfluchtes Leben!
       Er steckte einen schmutzigen Eimer in einen zweiten, warf mehrere Bausche zusammengeknäultes Heu hinein, deckte es mit einem Küchenblech ab, zog mit der ganzen Konstruktion in das von wildem Gesumm erfüllte Bad, strich dort ein Streichholz an, entzündete sein Brenn-material, hob den Blick zur Decke, schlug, wie unser Ur­vater Moses, mit dem Stock auf das weiße, lärmende Nest, rannte gleich darauf hinaus, knallte die Tür zu und versperrte sie mit einer alten Deichsel.
       In sicherer Entfernung blieb er stehen und sah zu, wie schwarze Rauchschwaden und etwas später große golde­ne Wespen – eine Schreckgestalt nach der anderen – aus dem herzförmig ausgesägten Fensterchen drangen.
       Das kleine beflügelte Schreckenswesen, das sich aus dem verräucherten Häuschen löste, verharrte für einen kurzen Moment in der Luft, hing in der Schwerelosigkeit des Alls, oben, im ausgesägten Herzen, wie eine zitternde Seele, die sich vielleicht zuvor nach dem heimischen Nest gesehnt hatte, nach solchen Seelen und Körpern wie sie, nach der Einzigen auf der ganzen Welt, nach süßer und gelöster Atmosphäre. Andere, erregtere, heiser summen­de Seelen schubsten sie schon von hinten, rempelten und stießen sie, in panischer Angst ihre Giftstacheln zückend, viele von ihnen hängten sich übereinander, drückten schwer auf ihren Leib mit dem großen glodenen Kopf, auf ihr Bäuchlein, das noch gefüllt ist mit morgendlichem Nektar, auf ihr zitterndes Flügelpaar: «Dawai! dawai!» – Wehe, was das Unglück aus einer reinen Seele macht!
       
       Aber der Geist des Volkes?
       Da kommt Sujew vorbei, der schnurrbärtige Veteran:
       – Vergebliche Mühe», – schreit er, – «da müsstest du schon den Dachstuhl anzünden…»
       – Geh, Sujew, geh weiter!
       Die Wespen fliegen und fliegen, wieviel mag es dort geben, eine Million? Zwei Millionen? David, schweiß­gebadet, auskleiden darf er sich nicht, das weiß er wohl, David legt sich lang ins Gras, stützt sein Kinn in beide Hände und guckt, wartet und träumt vor sich hin.
        Ein altes Hutzelweiblein hinkt vorbei.
       – Nicht so, – sie bleibt stehen, – nicht so, Söhnchen. Du hättest das Nest mit einem nassen Lappen umwickeln und sie alle auf einmal ertränken müssen…
       – Geh weiter, Großmütterchen…
       Die kleine Tine kommt angelaufen, die Enkelin der Wolkodawzews: Die Wespen sind zu ihnen in den Hof hinübergeflogen, sie quälen und töten ihre Bienen, krie­chen in den Bienenstock hinein…
Eine Lüge, denkt David, hätte sich so etwas ereignet, wäre der Großvater schon selbst gekommen.
       – Der Großvater sagt, – meint Tine weiter, «es würde euch sowieso nichts nützen, weil die Wespen, die Mist­viecher, sagt der Großvater, alle zurückkehren werden – das hier ist ihr Heim, sie haben so einen Instinkt…
       – Nun gut, Tinotschka, sag dem Opa: Onkel David wird es nicht mehr tun. Onkel David hat es einfach nicht ge­wusst…

       Der aus der Öffnung quillende Rauch wird allmählich schwächer, und David begibt sich erneut in das Häus­chen, legt zum wer weiß wievielten Male fest zusammen-geknäultes Heu nach und läuft wieder hinaus. Die Wes­pen schwirren, ziehen hoch über den Weg zum Wald, einige von ihnen erkennt er, könnte er schwören, schon wieder, sie kehren zurück, wer weiß von wo, setzen sich auf die Außenkante des ausgeschnittenen Herzens, hindern die anderen daran fortzufliegen, kehren um, fliegen hin und her, hin und her. Was für ein Instinkt! So ein Starr­sinn oder Fanatismus. Bei den Menschen nennt man ihn «Heimatliebe» oder «Patriotismus». Haben sie etwa Kin­der dort zurückgelassen, Larven in Kammern, Embryos in Eiern, oder wie immer es bei ihnen zugehen mag, das Geborenwerden und die übrigen Metamorphosen?
       Wozu äußeres Unheil eine sanfte Seele doch treibt…
        Die Sonne begann sich zu verkriechen und klaubte ihr angegrautes Bettzeug zusammen, um sich irgendwo im Meer schlafen zu legen, als Larissa mit glucksendem Gelächter zu David herauskam, und ihr (wie immer, wenn sie fröhlich war) «jüdisches» Repertoire zum besten gab:
         – Nu, wos hert sech? Es forzt sech un kricht sech? Ha-ha-ha! Opgekitzelt? Ist ihm schon die Lust darauf vergangen?
Beim Wort «darauf» beschrieb sie, damit er sie auch richtig verstehe, mit der Hand einen Kreis in der Luft, der das Bad und den düster gewordenen Himmel, den tief-schwarzen Wald mit einschloss…
        – Nun, macht nichts, sei nicht böse, morgen werden wir, so Gott will, die süße Birne schon zu Ende essen, du Leckermaul, du… Komm, die Kinder wissen schon nicht mehr, was sie denken sollen, und haben Angst dich zu rufen. Der Hof ist voller Wespen, richtige Bestien! Ach, und alles umsonst, musst du wissen, du hättest mich nur fragen brauchen, schließlich bin ich auf dem Dorfe großgeworden… Das Volk macht es klug: man nimmt einen Sack, oder einen Korb, macht ihn nass – es reicht sogar ein einfacher Lappen, man stellt ein Fass Wasser bereit…
       – Und vergiss nicht das Bad abzuschließen! – endet sie.–  Das Bad, du Sexprotz, du Lustmolch! – sie krümmt sich vor Gelächter, und Tränen spritzen ihr aus den Augen…
       
         Doch das Volk irrte: Der Schwärm verschwand bis zur letzten Wespe, und zwar für immer.
         Am nächsten Morgen saß David beim offenen Bad und versuchte das in mehrere Teile zerbrochene, verlassene Nest wieder zusammenzufügen, um es den Kindern zu zeigen.
 
                                                                                   HIMBEEREN SAMMELN

       – Schluckspecht», flüsterte ihm Larissa zu. – Bei solcher Sauferei noch ein Wunder, dass du keine grünen Teufel­chen gesehen hast. Ihr macht euch selbst meschugge mit euren Seraphim und Bären, ich gehe Himbeeren suchen, in einer Woche wird nichts mehr da sein…
       Sie zieht die Kinder warm an. Der Tau an solch einem Morgen sprüht und rinnt, wenn du quer durch das dich­te, noch verschlafene Gras gehst, und deine Füße werden sogleich kalt und nass, vollgesogen mit Finsternis, mit Nachtsaft, der sich is unterirdischen Wurzelwerk absetzt. Heute hat sie ihnen, Gott sei Dank, wenigstens Stiefel an­gezogen. David, der ein paar schwere, vom Vorgänger zurückgelassene Schuhe über den Wollsocken trägt, einen langen Stecken in der Hand und einen gewaltigen Kater im Kopf hat, trottet ihnen im taunassen Kleefeld hinter­drein: hat er denn eine Wahl? Die ersten hungrigen Bienen des Dorfes, die aus Baumritzen und Erdhöhlen im Wald geflogenen Hummeln summen und setzen sich auf die feuchten roten Moosblüten, Libellen mit langen Rümpfen, dicken Köpfen und vorstehenden Augen lassen sich still auf die Schulter des Wanderers nieder und schwenken ihren wurmförmigen Hinterleib…
       Russland, Russland! Wie schön, wie herzergreifend, ist deine Natur, wie rein und tiefgründig. Mit welchem Verständnishunger blicken uns die aufgerissenen Augen deiner geheimnisvollen Landschaften an. Was soll ich ih­ren stummen Fragen nur antworten? Nicht hier, nicht auf Gräser und Blumenstengeln, nicht an Birkenblätter ge­klebt, sprießen schmutzigen Moosflecken gleich jene An­schläge an den Mauern um den Puschkinplatz; aber auch da bist du es, Russland, wie in den Stadtgärten an der Newa und bei der Vielzahl deiner Triumphbögen, auf Hunderten von Bahnhöfen, in Tausenden Handels- und Kulturzentren, in Stadien, Märkten und Parks. Wohin treibst du, wohin vertreibst du uns, Russland. Sind meine Spuren deiner duftenden Erde zu schwer, um sie zu er­tragen? Oder reichen sie für meine beiden Kinder nicht mehr aus, die dicken überreifen Früchte deiner Himbeer­sträucher, die wie gemalt um die smaragdgrüne Wald­wiese mit dem blauen Flecken Himmel darüber stehen, inmitten von Grillenzirpen und Vogelzwitschern in der phantastischen außerplanetarischen Flora? Nun, «Bog nje widast» – wenn uns Gott nicht verrät, wie sie sagen, wird das Schwein uns nicht fressen: Die Welt ist groß, und die Fauna – auch die menschliche, gottlob so verschieden…
       – Geveret Rivka, ejfó r’chóv Mezada?[4] – schreit fröhlich, unter einem Strauch stehend, aus vollen Himbeermund der zehnjährige Wen]a, die Plaudertasche.
        – Please, take teh second turn to teh right, – ruft Sjuschke, — and ejfó mispàr tescha?[5]
Jetzt antwortet ihr der Junge schon auf Englisch, sucht unter den fremden Worten und blickt dabei auf die zer­quetschte Beere in seinen Fingern. Er betrachtet ein wei­ßes Würmchen, das von einem Kern zum anderen hin-überkriecht.
       – Tfu, gadost kakaja![6]
       Er freut sich, das Kind, quietscht und nascht! Die Welt ist groß, sage ich mir. Gott, denke ich, hat für euch schon irgendwo andere Himbeeren gepflanzt, vielleicht auch Kornelkirschen, is Ende gar einen Mandelbaum…
Larissas volle Blechkanne hängt ihr schwer vor dem Bauch, die Kinder tragen ihre beiden Einweckgläser an Bändchen um den Hals – sie sind betupft mit Rot und Sonnenholographien. Doch sie, Larissa, ist noch immer nicht zufrieden, sie treibt alle weiter zum Sumpf, dort, nur dort sind die echten Himbeerstellen! Gestern habe sie, so ihr Argument, mit den alten Dorfweibern geplaudert: von Bären oder anderem Teufelsspuk hätte da noch nie jemand gehört.          
       – Zwei hoffnungslose Trinker seid ihr, du mit deinem Nikolai, das ist es! Und Sinowij Pantelejmonowitsch, den du auf der Schwelle gesehen haben willst in deinem Vollrausch, als dir der Seraph erschien, Sinowij Pantelejmonowitsch saß genau zu dieser Zeit vor dem Fernseher, es lief nämlich gerade die fünfte Folge von ‘Binoni und Rosa’. Ach, die Menschen hier haben ihre Vergnügen, freuen sich ihres Lebens, sehen irgendeinen Film, fahren nach Smolensk auf den Jahrmarkt, bringen dem Kind ein Kaninchen mit…»
        – Rabbit, – ruft Sjuschka fröhlich, – auf Englisch heißt Kaninchen ‘teh rabbit’, und auf Jiddisch, Papa?
         – ‘Kinigl’… oder ‘Kaninchen’, wie im Deutschen…
          Ja, ja, die Kinder werden sich an das Kaninchen gewöhnen, es liebgewinnen, sich mit ihm anfreunden, und eines schönen Tages: Hier, Kinderchen, esst, euer alter Freund ist jetzt ein leckerer Gulasch…»
          Er kennt sie schon auswendig, ihre alte Leier: Du ver­schreckst die Kinder mit deinen Spitzfindigkeiten. Sie hätten wie die Burschen und Mädel um sie herum auf­wachsen sollen, so wie sie, Larissa, selbst und ihre sieben Brüder und Schwestern aufgewachsen sind, ohne «Fiedel-Schmiedel», Klavier, Takubokas und Salvador Dalis; ihre Kinder hätten schon längst etwas für ihr Leben gelernt –wie man einen Eimer Wasser aus dem Brunnen zieht, Gras für die Gänse streut, die Wäsche am Fluss spült, – sie hätten selbst gesehen und gewusst, was Leben heißt, was ein lebendes Wesen ist, wie es geboren wird und wie es stirbt, und wie einer den anderen frisst auf der Welt…
 
          Ach, mit Honig und Brennesseln schmecken die Him­beeren, nach vergessenen süßen Jahren, nach Kinderglück und Ammenmärchen. Vor dem Gesicht kreisen ausgeruh­te, feierlich gestimmte Mücken, tanzen Solo und Pas de trois, lassen sich, müde geworden, nieder auf seine Nase, sein Ohr, fallen ihm in den Kragen, kitzeln und stechen ihn.
           Irgendein unbekanntes erschrockenes Käferchen, dass vielleicht gerade einem Vogelschnabel entronnen ist, will ihm in den Ärmel kriechen, doch die hinteren in Him­beersaft eingetunkten Flügelchen kleben schon an den Härchen auf Davids Hand, lassen es nicht weiter, erlau­ben dem Stück Gesumm nicht, sich zu verstecken, um wenigstens für kurze Zeit Vergessen zu finden, still, die Flügelchen aufeinandergelegt, in süßem Traum…
       – Sorry: Kogda awtobus na Chàjfu?[7] – ruft Sjuschka aus dem Gebüsch, und der Junge antwortet ihr, aus irgend­einem anderen Himbeerstrauch, mit sehr entfernt südlän­dischem Singsang in der Stimme: «Rivkà ve Dan garim be Kibúz. Hajóm hem be Chàjfa…»[8]

        In der Nacht träumte David von Himbeeren. Das far­bige Gesträuch, die mit prächtigen blutroten Früchten behangenen Zweige streckten sich und ragten bis zum Himmel, durchlöcherten die ungeheuren weißen Wolken und hingen wie Weintrauben von den Sonnenstrahlen herab, die von unten aus weiten Räumen hinaufführten zur goldenen Kugel, die dem großen Unsichtbaren, dem transparentenen Gott, gewiss auf der Handfläche lag.
      – David! David!
      In der Finsternis stand sein erschrockenes Weib. Sie rief mit erstickter, stiller, gedämpfter Stimme, um die Kin­der nicht zu wecken, und als sich David, noch ohne et­was zu begreifen, im Bett aufsetzte, nahm sie ihn wie ei­nen Blinden bei der Hand und führte ihn ans Fenster. Der feurige Seraph hing über dem Hof, von den Flügeln schlug eine heiße Flamme herab, Myriaden von Funken sprühten wie ein Kometenregen aus seinem Gefieder, aus jeder einzelnen Feder. Die dünne Birke mit dem Star­kasten in ihrer Krone hatte sich offenbar entzündet: Die Spatzen, die dort schon vor einem Monat eingezogen waren, als die Starenfamilie ihr Haus geräumt hatte, die Sperlinge waren einfach meschugge, flatterten in wilder Panik umher, tschilpten, ohne indes hinauszufliegen und versammelten sich schließlich in einem Eckchen, wohl um in Windeseile ihre Sachen zu packen. Würde alles zu Asche verbrennen! – dachte David, als er sah, dass große Funkengarben bereits auf den Rand des Daches nieder­gingen, und er einen stechenden Geruch von glimmen­der Dachpappe wahrnahm. Larissa stand hinter seinem Rücken und weinte gewiss. Die Kinder, müde gelaufen vom langen Tag, schliefen tief wie in einer Bärenhöhle. Besser sie nicht zu wecken. Was kann er wollen, wer ist er, Herr im Himmel? Besser nur dastehen – und gucken. Ohne den Blick zu senken. Schon drang der Feuervogel ins Haus und strich seine Flügel über die Wände. Oder umgekehrt. Er umfing das Haus mit seinen Flügeln und schlang es im ganzen herunter, stopfte es in die schmale, endlose, von rauchigem Nebel erfüllte Speiseröhre, aus der es keinen Rückweg zur Außenwelt mehr gab – er war nicht mehr zu finden.
                   Aus dem Jiddischen: Andrej Jendrusch
 
 [1] «Saraf» (Seraph) und «Srejfah » (Feuer, Brand) sind ins Jiddische aufgenommene                                                              Hebraismen derselben Wurzel (Anm. d. Üb.)

[2] Der Autor weiß nicht, was sein Held gelernt hat und wo er arbeitet, aber Anzeichen humanistischer Bildung finden wir bei ihm zweifellos. «Wie ein Hund» zum Beispiel, sind die letzten Worte von Josef K, Haupt­figur in Franz Kafkas Roman «Der Prozeß».

[3] «Auf Dich, Herr, vertraue ich, mein Gott. Hilf mir von all meinen Verfolgern und errette mich… » (Psalm 7/2).
 
[4] Hebräisch:»Frau Rebekka, wo ist die Massada-Straße?»

 [5] Hebräisch: «Wo ist Nummer Neun?»

 [6] Russisch: «Pfui, wie eklig!»
 
[7] Russisch: «Wann geht der Autobus nach Haifa?»

[8] Hebräisch: «Rebekka und Dan leben im Kibbuz. Heute sind sie in Haifa…»
 
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Lev Berinskij

«MUMMENSCHANZ»

(«Mumraj»)

Groteske in vier Akten

Neu übertragen und eingerichtet

von  Jiŕi Vrba und Stefan Stroux

 что означает: